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Erinnerungen altneu: Wie Prag immer wieder ihre Arme öffnet und mich trägt

 

Und dann stehe ich auf der Karlsbrücke an meinem ersten Abend in Prag. Der Himmel wird allmählich nachtblau, meine Strickjacke wärmt mehr als ausreichend an diesem dritten, recht warmen Oktobertag. Ich starre auf die Moldau. Mit einer Wärme in der Brust, weil ich an viele Menschen gleichzeitig denke. Erinnerungen wachen auf, aus verschiedenen Lebensphasen. In meinem inneren Ohr höre ich einzelne Stimmen, Szenen laufen vor meinem inneren Auge ab.

Die slowakische und tschechische Freundin, deren WG ich besser kannte als meine eigene, die mir die Stadt mit ihrer Kultur und Geschichte zu einem Zuhause machten. Der frühere Partner, der mein Kennenlernen mit Prag und meinen Weg begleitete. Die ehemaligen tschechischen Kolleg*innen, die mich förderten und über die Arbeit hinaus Prager Kneipen, tschechische Musik, Politik und Sprache näherbrachten. Freundinnen zu Hause, die mich vor ein paar Tagen erst verabschiedet und mir ermutigende Worte mit auf den Weg gegeben haben. Ihre Worte klingen nach und geben mir das Gefühl, eine kreative und emotionale Homebase zu haben, die mich trägt wie die Brücke, auf der ich in diesem Moment stehe.

Touristen hasten vorbei, bleiben nur wenige Sekunden stehen, um ein Selfie aufzunehmen. Ich stehe an die Brückenmauer gelehnt und schaue zufrieden in den Moment versunken aufs Wasser, in dem sich die Großstadtlichter spiegeln, und lasse meinen Blick entlang der Moldau schweifen. Plötzlich taucht eine Gruppe von Frauen auf und formiert sich fünf Meter von mir entfernt zu einem Kreis. Ich bemerke sie erst, als sie zu singen beginnen. Von diesem singenden Kreis geht Stärke aus, Verbundenheit und etwas Friedvolles. Alles und alle drumherum werden automatisch leiser, bewegen sich bedachter. Die Sprache der Lieder verstehe ich nicht, aber ich denke mir, die Frauen singen gegen den Weltschmerz an, gegen Krieg und Verletzung, vielleicht auch für Gott.

 

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Blick auf die Karlsbrücke: “Und so tauche ich ein…”

 

Ich stehe also an diesem ersten Abend in Prag auf der Karlsbrücke, auf der schon Könige und unzählige Touristen liefen und ich vor 16 Jahren zum ersten Mal. Ich lausche den singenden Frauen und meinen inneren Stimmen. Ich falle in die Nacht und fühle mich einsam vor lauter Glück. Weil in diesen Minuten das Glück und die Dankbarkeit zu groß sind, um sie mitteilen zu können. Weil ohnehin niemand da ist, mit dem ich sie teilen könnte. Und wahrscheinlich kann man in solchen Momenten nichts anderes tun, als sich in dieses Glück fallen zu lassen und einzutauchen. Also tauche ich ein, sauge auf, ganz und gar. An diesem ersten Abend in Prag.

 

KEIN LEICHTES GEPÄCK IM WEG

Nach Vilnius im Mai geht die gelbe Bank schon ein zweites Mal in diesem Jahr mit mir auf Reisen. Prag. Es ist ein Wiedersehen mit einer alten Bekannten, der ich mal ganz nah war und immer verbunden geblieben bin. Während die eine von uns relativ beständig geblieben zu sein scheint, lebt die andere ein anderes Leben als bei der letzten Begegnung. Zu erzählen haben wir uns beide viel. Wie im Mai in Vilnius wird mir im Oktober in Prag meine persönliche Zahlenreihe bewusst, die ich mit dieser Stadt verbinde. Der Zufall will es, dass es ebenso mein vierter Besuch ist: 2006 – 2007 – 2013 – 2022. Auch dieser Zahlenreihe folgt ein sicheres „to be continued“.

Vier Wochen verweile ich in Prag, den ganzen Oktober, weil ich ein literarisches Aufenthaltsstipendium* bekommen habe. Ein Traum geht in Erfüllung: Als „writer in residence“ darf ich in Prag meine eigene literarische Idee verfolgen – Kurzgeschichten, die sich mit dem Thema Menschenrechte auseinandersetzen. Vor gut einem Jahr tauchte die Idee das erste Mal auf und ist seitdem geblieben. Leider nur im Hintergrund. Ich möchte sie zu einem konkreten Konzept, einem konkreten Projekt ausarbeiten, greifbarer für mich selbst machen. Etwas, das mir im Alltag bisher nicht nebenher gelungen ist. In Prag werde ich einen Anfang dafür machen.

Und noch etwas möchte ich zum ersten Mal wagen: meinen Alltag komplett am kreativen Schaffen ausrichten, ihn freier gestalten. Die große Frage, die sich mir stellt: Werde ich frei schreiben können, wenn ich frei schreiben darf? Vorstellungen davon habe ich viele und konkret sind sie auch. Zu viele, zu konkret, wie sich schnell herausstellen wird. Die Realität fühlt sich doch anders an. Ich komme zu der Erkenntnis, dass ich besser mit leichtem Gepäck gereist wäre und den Koffer voll eigener Erwartungen zu Hause gelassen hätte. Jetzt steht er im Weg.

Also laufe ich dagegen an. Bewegung hilft fast immer, die Beine laufen frei, was den Geist schwerfällig macht. Meine Füße scheinen ihr eigenes Gedächtnis zu haben und finden Wege wieder, die mein Kopf nicht abrufen kann. Schnell ist das Vertrauen zurück, das ich schon vor 16 Jahren hatte. In Prag gehe ich nicht verloren. Die Stadt trägt mich. So versuche ich neue Wege, gehe in Seitenstraßen, lasse meine Füße entscheiden: rechts, links oder doch geradeaus, diese Ecke oder die nächste. Manchmal bin ich überrascht, was ich entdecke. Manchmal schmunzle ich, wo ich lande, und meine, dass es kein Zufall sein könne.

 

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Mein täglicher Blick auf die Moldau mit der Sophieninsel vorm Haus und auf den Petřin-Hügel gegenüber. Im Laufe des Monats sehe ich den Herbst wachsen

 

GEDANKENSTRÖME REISEN DURCH ALTE ZAHLEN & IMMER WIEDER FREIHEIT

Auch wenn sich mein Aufenthalt um Wörter drehen soll, drängen sich zwei Jahreszahlen in den Vordergrund. 1968. 1989. Ich bin auf einer Lesung des ostdeutschen Schriftstellers Michael G. Fritz. Nachdem er aus seinem Buch „Ein bißchen wie Gott“ gelesen hat, erzählt er von seiner Beziehung zu Prag. Er ist nur wenige Jahre nach meinen Eltern geboren und berichtet von der Zeit des Prager Frühlings 1968. Da bleibe ich in Gedanken hängen. Ich denke an meine Eltern, die im September 1968 in Stralsund heirateten. Die vergilbten Hochzeitsbilder im Fotoalbum zeigen eine Version von ihnen in schwarz-weiß, die ich nie kennenlernte, weil ich zehn Jahre später zur Welt kam. Eine Version, die ich aber immer mochte.

Erst vor ein paar Jahren erzählten sie, dass am Tag vor der Hochzeit nicht klar gewesen war, ob mein Vater da sein und die Trauung wirklich stattfinden würde. Er war zu der Zeit bei der NVA (Nationale Volksarmee) in Oranienburg, ein Pflichtprogramm für Männer in der DDR. Wegen des Prager Frühlings herrschte Urlaubssperre; die DDR war Mitglied des Warschauer Pakts und somit in Alarmbereitschaft. Meine Mutter wartete im Hause ihrer Eltern, ein Telefon gab es dort nicht, ein Anruf in der Kaserne, um sich zu erkundigen, ob ihr Bräutigam kommen wird, war nur über zig Ecken im Bekanntenkreis möglich. Einen Tag Urlaub bekam mein Vater. Eine rauschende Feier und eine Hochzeitsnacht gab es jedoch nicht, der Urlaubstag war ohne die dazugehörende Nacht, dafür mit zweimal 250 Kilometern Wegstrecke in öffentlichen Verkehrsmitteln, am Abend musste er wieder in der Kaserne sein.

Die zweite Jahreszahl, die mir in diesem Oktober in Prag häufiger begegnet, ist 1989. Schon am Tag meiner Ankunft denke ich unweigerlich an dieses Jahr. Es ist der 3. Oktober, Tag der Deutschen Einheit, und bevor ich auf der Karlsbrücke stehe und dem singenden Frauenkreis und meinem inneren Glück lausche, bin ich die Nerudova-Straße zur Burg hochgelaufen und habe auf das Dach und die Fahne der Deutschen Botschaft geblickt. Ohne die Ereignisse 1989 wäre mein Leben anders verlaufen, denke ich seit ein paar Jahren immer wieder an diesem Tag.

 

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In der Národní třída erinnert diese Tafel an die Studentenproteste von 1989

 

In den folgenden Wochen laufe ich häufiger an einer kleinen Gedenktafel in der zentralen Národni-Straße (Národní třída) vorbei, angebracht an einer Gebäudefassade nicht weit vom Nationaltheater. Auf ihr steht das Datum: 17.11.1989, darüber mehrere Hände, die das Peace-Zeichen formen, dazwischen stecken immer frische Blumen. Alles daran fängt meinen Blick, jedes Mal möchte ich über die Hände streichen, ihr Metall unter meiner Handfläche spüren, traue es mich jedoch nie. Die Gedenktafel ist für mich Präsens, sie erscheint mir wie ein Mahnmal für die Jetztzeit, erinnert mich an die Frauen im Iran, die in diesen Tagen ihre Hände zum Peace-Zeichen geformt in die Luft strecken und ihren Hijab verbrennen. Für die Freiheit.

Am 17. November 1989 in Prag waren es demonstrierende Studenten, die für die Freiheit auf die Straße gingen und dem 50. Jahrestag der Schließung tschechischer Hochschulen durch die deutschen Besatzer 1939 gedachten. Auf einem Flugblatt, das damals zur Demonstration einlud, stand:

 

„Wir wollen nicht nur pietätvoll an die damaligen Ereignisse erinnern, sondern wollen uns aktiv zu den Idealen der Freiheit und Wahrheit bekennen. Denn auch heute sind diese Ideale bedroht.“**

 

Die Demonstrierenden waren friedlich, die Polizei an der Stelle, wo heute die Gedenktafel hängt, nicht. Es wurde der Beginn der Samtenen Revolution. Nachdem die Mauer in Deutschland gefallen war, fiel nun auch das sozialistische Regime in der Tschechoslowakei. Ich war damals elf Jahre alt und bekam von alldem nur am Rande mit, weil ich in einer Kinderkur war und uns Informationen vorenthalten, Geschehnisse nicht eingeordnet wurden. Was ich aber seitdem tief in mir trage, ist ein Wissen, dass sich Systeme wie von einem auf den anderen Tag ändern können, ohne dass es Krieg geben muss.

Zeit- und Ländergrenzen verwässern in meinen reisenden Gedankenströmen in diesen Wochen in Prag. Geschichtliche Fakten schreibe ich in Gedanken neben die vergilbten schwarz-weißen Fotografien in den Familien-Fotoalben, kollektive Erinnerungssymbole stehen neben persönlichen Erinnerungen und scheinen doch aus einer anderen Zeit, Bilder von den aktuellen Weltgeschehnissen gesellen sich hinzu. Alles verknüpft sich, auch wenn es nicht direkt miteinander verbunden ist.

 

EIN SPRUNG INS KALTE WASSER & NEBELKÜSSE ZUM ABSCHIED

Mich beschäftigen die großen Fragen in Prag. Wohl auch, weil mein literarisches Projekt mich mittenrein in sie führt. Mich überwältigen die großen Emotionen in Prag – die warmen und die lähmenden, die zwangsläufig mit den Themen einhergehen. Genauso wie mit diesem geschenkten Freiraum, in dem ich mir selbst ganz nahekomme, aber eben auch an meinen aktuellen Grenzen nicht vorbei. Erst gegen Ende meines Aufenthalts verstehe ich, dass ich viel mehr von diesen Gefühlen zulassen und durchleben darf, reisenden Gedankenströmen viel mehr folgen sollte, wie auf einem Roadtrip der Entdeckungsfreude. Sonst klappt das mit dem Schreiben nicht. Nicht für mich. Nicht mit den Themen, die in meinem Kopf und Herzen mäandern. Erst gegen Ende meines Aufenthalts steht ein kleiner Anfang, beginnen sich lose Fadenenden zu verflechten.

 

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In einem Restaurant über Szenen an den Nebentischen schreiben und mich in der Außenwelt verankern (mit Doris Dörrie: Leben, schreiben, atmen. Eine Einladung zum Schreiben)

 

Etwa auf Spaziergängen und in Gesprächen mit alten und neuen Bekannten, beim Sitzen in Ergriffenheit und Ruhe einer Synagoge und einer Kirche, bei absichtslosen Schreibübungen mit mittelmäßigem Rotwein in einem schlechten Ristorante, im tröstenden Gruppenchat mit meiner kreativen Homebase, dem Kreativlabor. Und: auf der Moldau im Rumpf eines rostigen Boots, in dem eine Bar ist und ein knisterndes Kaminfeuer, in dem Ausstellungen, Konzerte und Lesungen stattfinden. Diesmal meine Lesung. Es ist das vorletzte Boot vor der Eisenbahnbrücke. Die Eisenbahnbrücke, über die man fährt, wenn man mit dem Zug nach Prag kommt. Die Eisenbahnbrücke, die ich vor 16 Jahren von meiner WG aus sehen konnte. Die ich oft zu Fuß überquerte, um rüber nach Vyšehrad zu laufen. Immer mit einem mulmigen Gefühl, weil ich zwischen den Gleisen aufs Wasser blicken und die Wucht des Flusses erahnen konnte. Jetzt habe ich das mulmige Gefühl im Rumpf dieses rostigen Boots. Nicht wegen des Wassers, sondern weil ich zum ersten Mal vor Publikum aus meinen eigenen Texten lese. Ich lese Gedichte, eine Kurzgeschichte und die gelbe Bank Kolumne, die Folge über Vilnius. Dazwischen erzähle ich vom Kreativlabor, da genau dort viele Texte ihren Anfang nahmen.

Nach diesen Stunden im Rumpf des rostigen Boots lasse ich los, wachse für ein paar Momente in himmelhohe Zuversicht, in der so viel möglich scheint. Prag hat mich getragen und meine kreative Homebase auch. Ein paar Tage später, am Morgen meiner Abreise sehe ich keine Karlsbrücke mehr. Selbst die Sophieninsel direkt vorm Haus scheint verschwunden. Über dem Fluss hängt eine Wand aus Milchglas. Ich finde es ganz passend für meinen Abschied. Prag quält mich nicht mit ihrer Schönheit, sondern gibt sich bedeckt-versteckt. So hauchen wir uns Nebelküsse zu und wissen, wir werden uns wiedersehen. Nur fürs nächste Wiedersehen würden wir nicht wieder so lange warten, versprechen wir uns still.

 

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Im schummrigen Rumpf des rostigen Boots “Avoid Floating Gallery” lese ich zum ersten Mal aus eigenen Texten

 

 


s.

* Das literarische Aufenthaltsstipendium „Grenzenlos: ein mittelfränkisch-tschechischer Literaturaustausch“ hat 2021 ein Zusammenschluss mehrerer Player der Metropolregion initiiert: die Akademie Faber-Castell Stein, das Amt für Internationale Beziehungen und die Koordinierungsstelle für Literatur am Bildungscampus der Stadt Nürnberg sowie der Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS), Regionalgruppe Mittelfranken. In Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus Prag geben sie einer Autorin oder einem Autor die Möglichkeit, einen Monat in der jeweils anderen Stadt literarisch aktiv zu werden.

Für den Autorenblog des Prager Literhauses habe ich während meines Aufenthalts mehrere Beiträge geschrieben. Hier kannst du mehr lesen.

** „Der 17. November 1989 und seine Vorgeschichte“, Radio Prague International: https://deutsch.radio.cz/der-17-november-1989-und-seine-vorgeschichte-8092444. Zuletzt aufgerufen am 12.01.2023.

BILDUNTERSCHRIFT: In die gelbe Bank Kolumne schreibe ich über alles, was mir auf der gelben Bank in der Schiffstraße begegnet. Oder eben auch nicht. Gedanken, Beobachtungen, Alltagsgeschichten, BILDQUELLE: Wenn nicht anders angegeben, sind die Bilder in diesem Beitrag von Petra Häfner
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