Hugo und die Gemeinschaft
Hugo ist neulich bei mir eingezogen. Also nicht bei mir in der Wohnung. Wir probieren es erst mal im Kreativlabor miteinander. Ach, was heißt: probieren? Tief in mir weiß ich, dass es mit Hugo funktionieren wird. Das war eine dieser Vergucktheiten auf den ersten Blick. Eine Entscheidung aus dem Bauch heraus. Bevor der Kopf eine Chance hat, sich mit langen Argumentationen einzubringen. Wenn ich hier von Hugo schreibe, dann müsst ihr euch die französische Aussprache vorstellen. Mit leicht gespitzten Lippen. Also eigentlich ist es: Ügoo. Das H wird nicht mitgesprochen, das U wie das Ü in Überraschung ausgesprochen und das Go wird etwas in die Länge gezogen. Ja, genau so. Das ist wichtig, diesen Klang im Ohr zu haben.
Ich glaube ja, dass Hugo – also Ügoo – eigentlich Skandinavier ist. Aber wir haben noch gar nicht darüber gesprochen, fällt mir auf. Hugo steht jetzt jedenfalls neben meinem Schreibtisch im Kreativlabor Erlangen. Und symbolisch steht er für viel mehr. Fürs Ankommen in Gemeinschaft. Fürs richtige Umfeld, das beim Entfalten und Entwickeln stützt. Zum kreativen Arbeiten ermutigt. Für Arbeit im Hintergrund, die man nicht sieht, die aber dennoch Energie kostet. Für Jahresziele jenseits von Umsatz. Für Bauchentscheidungen. Für die Notwendigkeit, sich mal hinzusetzen und in die Luft zu starren.
GEMEINSCHAFT ERLEBEN – GEKOMMEN, UM ZU BLEIBEN
Wenn ich mich dann hinsetze und in die Luft starre, ist mein Kopf manchmal wie eine Jukebox. In den letzten Wochen spielte diese Kopf-Jukebox oft dieses Lied von Wir sind Helden:
»Gekommen, um zu bleiben – wir gehen nicht mehr weg…«
Zumindest vorerst. Mein Bleibeort ist das Schreiben, die Selbstständigkeit. Und ganz konkret das Kreativlabor. Da, wo die gelbe Bank steht und jetzt eben auch Hugo – also Ügoo. Es war kurz vor der Corona-Pandemie, als ich auf Instagram das erste Mal das Kreativlabor und Carolina Martínez, die Gründerin und Leiterin, sah. Irgendwas zog mich an, ich wollte sowohl Carolina als auch die Räume kennenlernen. Ich war noch nicht lange selbstständig, aber nur alleine zu Hause arbeiten, das kam für mich nie infrage. Ich wollte immer einen zweiten Ort, Abwechslung mit Gemeinschaft und Zugehörigkeitsgefühl und Freiheit. (In Folge #1 der gelben Bank Kolumne habe ich erzählt, dass ich schon vor Jahren ein Zukunftsbild in einem Wochenendseminar entworfen habe, in dem ich Gemeinschaft und die Arbeit alleine kombinierte.)
Nachdem die ersten Lockdowns vorüber waren, holte ich das Kennenlernen nach und buchte ein Tagesticket, später eine Zehnerkarte. Noch später, im Oktober 2021 bezog ich einen Arbeitsplatz auf Probe. Mit geborgten Möbeln von guten Freunden. Jetzt ist Sommer 2022 und ich bin immer noch da. Die geborgten Möbel tausche ich gegen eigene ein, den Platz gestalte ich ergonomischer. Ich richte mich ein. Denn ich will bleiben. Es ist nicht der beste Arbeitsplatz für mich, wenn es ums Schreiben geht. Dafür knarzen die Dielen manchmal zu laut. Aber das habe ich eben erst im letzten Jahr richtig verstanden, was ich zum Schreiben brauche, wenn ich vom Schreiben lebe. Knarzende Dielen und wechselnde Nebengeräusche sind es ganz oft nicht. Eine Gemeinschaft ist es jedoch schon.
Andere Kreative, andere Soloselbstständige, von denen ich mich verstanden und gesehen fühle, die ich verstehen und sehen darf. Referenzpunkte auf einem Weg jenseits von Anstellung, Team und Unternehmenswelt. In den letzten anderthalb Jahren habe ich einigen kreativen Selbstständigen begegnen dürfen. Alle haben mir gezeigt, dass die nicht-normalen Erwerbsbiografien gar nicht so selten sind. Dass kreatives und selbstständiges Arbeiten andere Ressourcen braucht als die Büroarbeit; nämlich: ein inspiriertes Ich, auf das ich viel besser achtgeben muss. Dass man ganz oft auch einfach durchhalten und dranbleiben muss.
Bei Soloselbstständigen ähneln sich viele Gedanken. Da wechseln sich Phasen von Enthusiasmus, Begeistertheit, Inspiriertheit ab mit Selbstzweifeln, Existenzängsten, Feststecken in sich selbst, im kreativen Prozess; Gestaltungsspielraum wiederfinden, Freiheit. Weiterentwicklung, weil man mit jeder Entscheidung irgendwie wächst, auch wenn man manchmal scheitert. Da braucht es Menschen, bei und mit denen man wirken und wachsen kann, wo ein gegenseitiges Bestärken möglich ist und die ein Zugehörigkeitsgefühl als Hintergrundrauschen geben.
DAS GROSSE GANZE UND DIE VERBUNDENHEIT
Wenn ich über Gemeinschaft nachdenke, lande ich automatisch bei einem besonderen Gefühl: Verbundenheit. Ich fühle es nicht immer. In der Besonderheit, an die ich gerade denke, sogar eher selten. Es macht mich demütig. Und es hat etwas Erhabenes, weil es das große Ganze spürbar werden lässt, das in unserem Alltag oft abstrakt bleibt. Dieses Gefühl von Verbundenheit kann sich einstellen, selbst wenn man gar nicht gemeinsam an einem Ort ist, sich niemals begegnet ist und niemals begegnen wird.
Ich erinnere mich an einen Moment im Mai. Ich saß in einem Straßencafé in Klaipeda, der litauischen Hafenstadt. Mit Jurate, meiner langjährigen litauischen Freundin, die ich vier Jahre nach unserem letzten Treffen wieder besuchte. Ich war müde und etwas mundfaul, hinter uns lagen fünf Tage gefüllt mit tiefen Gesprächen, Erinnerungen, Träumen, Tränen und Lachen. Wir schwiegen. Ich hing meinen Gedanken hinterher, schrieb in meinem Notizbuch, las in einem Buch. Jurate las und tippte auf ihrem Handy. Lange dauerte es nicht an und wir sprachen wieder. Ich über das Gelesene und Gedachte, sie über das Getippte.
Während ich kurz in meinem Mikrokosmos abgetaucht war, hatte Jurate mit einer ukrainischen Frau in Lwiw gechattet, ihr erzählt, dass sie mit ihrer deutschen Freundin in einem Café in Klaipeda saß. Diese ukrainische Frau musste nach Kriegsbeginn aus dem Osten der Ukraine flüchten. Mit ihrem Sohn und hochschwanger mit dem zweiten Kind. Ihr Mann, der Vater des Sohnes und des ungeborenen Babys, musste im Osten bleiben. Inzwischen hatte die Frau ihr zweites Kind geboren, versuchte einen Alltag zu finden. Alleine. Für die Kinder. Jurate und ihre Gemeinde in Vilnius unterstützten sie aus der Ferne. Seelsorgerisch und finanziell. Über das Alltägliche jenseits des Krieges zu sprechen, war eine Stütze.
Obwohl ich diese Frau nicht kenne, denke ich bis heute immer wieder an sie. Und an diesen Moment im Café, als Jurate mir von ihr erzählte. In diesem Moment spürte ich eine besondere Verbundenheit. Denn in diesem Moment in Klaipeda berührten sich so viele Leben und Geschichten. Zumindest in meinem Empfinden. In den fünf Tagen zuvor sprachen Jurate und ich über unsere Großeltern und deren Kriegserfahrungen, über das geteilte Europa, das unsere Eltern und wir beide als Kinder erlebten, sie in der Sowjetunion, ich in der DDR. Über die Freiheit danach und unsere Kämpfe und Freuden in der Soloselbstständigkeit, Jurate als Übersetzerin, ich als Texterin und Autorin. Und über den Krieg jetzt und eben diese Frau, die flüchten musste, allein mit Kind und hochschwanger. Und dass doch alles miteinander verbunden ist.
Was das mit Hugo – also Ügoo – zu tun hat? Hm, so direkt wahrscheinlich gar nichts mehr. Aber wenn ich mich dann hinsetze und in die Luft starre, durchatme, fühle ich manchmal diese Dankbarkeit und Verbundenheit. In mir verbinden sich die Fäden verschiedener Geschichten, die wiederum zu unterschiedlichen Menschen gehören. Hier und dort, im Jetzt und auch im Früher und irgendwie ja auch im zukünftigen Später. Und dann sitze ich eben nicht alleine auf Hugo, sondern mit einer großen Gemeinschaft.
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